Alte Sitte Eidring

Tacitus und Divination

Der Römer Tacitus

Publius Cornelius Tacitus war ein römischer Historiker. Er lebte von ungefähr 55 u.Z. bis 120. Tacitus war auch römischer Senator und 112-113 Gouverneur der Provinz Asien. 98 schrieb er die wohlbekannte "Germania", in der er das ihm bekannte Wissen über die germanischen Volksstämme östlich des Rheins zusammenfaßte. Seine Absicht war offenbar, genau die Tugenden bei den Germanen hervorzuheben, die er auch als römische Tugenden ansah, so daß man sagen kann, er wollte seinen "Mitrömern" einen Spiegel vorhalten. Umstritten ist weiterhin, wie wahr denn nun seine Angaben über die Germanen sind. Meist wird heute angenommen, daß er recht gut über das bescheid wußte, worüber er schrieb. So wird auch vermutet, daß er evtl. selbst als Statthalter o.ä. an der Rheingrenze eine zeitlang stationiert war. Man kann in ihm eine Art "Journalist" sehen, der gut recherchiert hat, aber doch auch für ein bestimmtes Publikum schrieb.

"Tacitus, der Romantiker, sang das Lob des einfachen Lebens in dem persönlichen Stil der Dekadenzzeit mit originellen Verrenkungen im Satzbau und einer Sammlung der allerungewöhnlichsten Wörter, die er finden konnte."
   Grönbech

In der Germania spricht Tacitus davon, daß die Germanen 'Lose' zur Weissagung benutzen, hier der Text:

"Vorzeichen und Losorakel beobachten sie (die Germanen) wie kaum ein zweites Volk. Das herkömmliche Verfahren beim Losorakel ist recht einfach: Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum ein Reis ab, zerschneiden es in Stäbchen, versehen diese mit bestimmten (runenartigen) Zeichen und streuen sie planlos über ein weißes Tuch, wie sie ihnen gerade unter die Hand kommen. Dann betet der Stammespriester, wenn eine Befragung von Stammes wegen erfolgt, bei privater Befragung der Hausherr persönlich, zu den Göttern und hebt - den Blick zum Himmel gewendet - dreimal (hintereinander) eins auf und deutet die aufgehobenen Stäbchen nach dem vorher eingeritzten Zeichen. Geben sie ablehnenden Bescheid, dann wird an demselben Tage in derselben Angelegenheit keine Befragung mehr vorgenommen, bei zustimmendem Bescheid wird die zusätzliche Bestätigung durch Vorzeichen für erforderlich gehalten."
   Tacitus

Bei dieser Textstelle muß man sich fragen, ob Tacitus denn tatsächlich von den Runen sprach, wie wir sie kennen, also mit Laut- und Begriffswert. Fehu Es gibt etwas, das darauf hindeutet. Und zwar führt Klingenberg aus, daß Tacitus das Wort 'notae' benutzte, um diese Zeichen zu benennen. Er hätte aber auch 'littera' benutzen können. Doch er scheint das Konzept dieser Zeichen seinem römischen Publikum in wohlbekannter Weise dargelegt zu haben: So wie die Römer M für Marcus oder SPQR für Senatus PopulusQue Romanus schrieben, so veranschaulichte Tacitus, daß die Runen dasselbe Konzept haben: F steht für Fehu und bedeutet Vieh.

Man muß allerdings sagen, daß die exakte Weissagungspraxis aus diesem Zitat nicht hervorgeht. Es bleibt Raum für Spekulation und eigene Interpretation. Manche Forscher vermuten auch in den Zeichen, von denen Tacitus schreibt, "vorrunische" Zeichen, was aber nicht unbedingt sein muß, da man für die Enstehungszeit der Germania durchaus die Existenz des älteren Futharks annehmen darf.

Noch ein anderer Aspekt ist überdenkenswert: Es stellt sich die Frage, wie die Runen genutzt wurden. Heute sieht das so aus, daß sie geworfen werden, um zukünftige Entwicklungen bzw. Entwicklungsmöglichkeiten sichtbar zu machen. Man kann sagen, sie sollen die Zukunft beleuchten. Divination (Prophezeiung, Vorhersage) ist genau dies. Wer gab den Rat? Vermutlich die Götter, zumindest setzt Derolez das altnordische Wort "regin" (Rater = Götter) in Zusammenhang mit dem Begriff reginkunnar: "Ein Mittel, um die Ratschlüsse der Regin kennenzulernen, bildeten eben die Runen. Deshalb heißen diese Zeichen reginkunnar, 'von den Regin oder Göttern stammend'." (Derolez)
Nun glaubt aber Y. Kodratoff, daß die Runen in einem völlig anderen Sinn befragt wurden, nämlich zum Erfragen einer Erlaubnis, etwas zu tun ("ask for permission"). In seinem Text Runes and Divination führt er verschiedene Quellen auf (Landnámabók, Ynglinga Saga, Cäsar - Bello Gallico, Tacitus - Germania, Alcuins Vita Willibrordi, Rimberts Vita Ansgarii sowie die Havamal-Strophen 80 und 111) und belegt damit, daß neben der magischen Nutzung der Runen zur Änderung der physischen Realität die zweite Nutzung das Einholen von Erlaubnis war, die Runen als "advice-givers": "It looks like the runes were used to ask what the price was to pay for achieving some result. If the price was too high then they were 'forbidden' to perform the desired deeds." (Kodratoff). Gerade auch an dem oben zitierten Tacitus-Ausschnitt wird das deutlich: Die Runen konnten offenbar "ablehnenden" oder "zustimmenden Bescheid" geben.
Dies ist natürlich eine sehr vom Gebrauch der Runen durch heutige, germanische Heiden verschiedene Auslegung. Wie weiter unten beschrieben, lege ich die dritte Rune eines Dreier-Wurfes auch meist so aus, daß sie zwar auch die Zukunft beleuchten kann, aber doch auch Handlungsalternativen / -anweisungen aufzeigt.

Praxis der Divination

Weissagung mit Runen - wie sie auch heute praktiziert wird - bedeutet also das 'Auswerfen' der Runen und nachfolgende Ziehen von einer oder mehreren Runen, die dann interpretiert werden. Ich ziehe maximal 3 Runen, wie Tacitus es schildert. Warum es überhaupt möglich sein soll, etwas über aktuelle Entwicklungen, ihre Ursache und ihre möglichen Folgen durch Runenbefragung herauszufinden, wird oft in Anlehnung an C.G. Jungs Begriff der Synchronizität erklärt. 

"'Synchronizität' ... nennt er (d.i. Jung) ein die Kausalität ergänzendes Erklärungsprinzip und definiert sie als 'zeitliche Koinzidenz zweier oder mehrerer nicht kausal aufeinander beziehbarer Ereignisse gleichen oder ähnlichen Sinngehalts', wie sie z.B. in Form eines Zusammentreffens von inneren Wahrnehmungen (Ahnungen, Träume, Gesichte, Einfälle usw.) mit äußeren Ereignissen, mögen diese in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen, als sinnvoll erlebt werden können. ...
Das Zustandekommen solcher synchronistischer Phänomene erklärt Jung durch ein 'im Unbewußten vorhandenes und wirkendes, apriorisches Wissen', das auf einer unserer Willkür entzogenen Entsprechungsordnung des Mikro- mit dem Makrokosmos beruht, in der die Archetypen die Rolle der anordnenden Operationen innehaben."
   J. Jacobi

De Vries erklärt die Wirkung der Runen aus dem Begriff des Schicksals heraus:

"Von einem Zufall darf man beim Runenorakel nicht reden. Die Runen enthüllen, entweder durch ihre Verbindung mit der übersinnlichen Welt, oder als Äußerung eines göttlichen Wissens, die zukünftigen Ereignisse. Daraus ergibt sich aber notwendigerweise, daß diese Zukunft schon vorausbestimmt ist, daß also das Leben eines Menschen oder die Geschichte eines Volkes nach unabänderlichen Gesetzen verläuft. Es waltet ein Schicksal über der Welt."
   de Vries

Runenbefragungen sind oft in eine Art Ritual eingebettet, das sehr unterschiedlich aussehen kann. Meist meditiert der Fragende kurz (s.a. Erden und Zentrieren) und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Fragestellung.

Wurf mit Ziehen einer Rune

Diese Methode ist ungenau, da jede Folgerung nur auf einer Rune beruht. Nichtsdestotrotz kann man daraus eine schnelle, vage Interpretation ziehen. Man kann daraus auch eine Übung machen, indem man jeden Morgen eine Rune zieht und schaut, wie die Rune als 'spirituelle Führung' im Tagesverlauf zu deuten ist.

Wurf mit Ziehen von drei Runen

Das scheint die auch von Tacitus beschriebene Variante zu sein. Viele heutige Runenmeister ('Vitkis') verwenden sie. Dabei schüttet man alle Runen aus einem Beutel auf ein Tuch und hebt dann hintereinander - ohne hinzusehen - 3 auf, die man von links nach rechts vor sich legt. Die drei Runen werden als Entsprechungen der drei Nornen Urd, Verdandhi und Skuld aufgefaßt. Dementsprechend steht die erste für vergangene Dinge (Dinge, die geworden sind), die zweite für aktuelle Vorgänge (Dinge, die im Werden begriffen sind) und die dritte für zukünftige Entwicklungen (Dinge, die werden könnten).
Es gibt jedoch Autoren, die das dreifache Zeitkonzept ablehnen, da die Germanen angeblich nur ein zweifaches Konzept von Zeit hatten: Vergangenheit für alles, was je entstanden ist; Gegenwart für das, was gerade entsteht, also eine sehr "augenblickliche" Auffassung vom Werden, die auch bei Ken Wilber zu finden ist.
Somit stünde die dritte Rune nicht für eine konkrete Zukunft, sondern kann nur Entwicklungstendenzen aufzeigen oder aber Lösungswege.
Gundarsson führt ebenfalls aus, daß die Germanen die dreiteilige Zeiteinteilung nicht hatten. Es gab wohl nur 'alles das, was geworden ist' (die Vergangenheit) und 'alles das, was gerade entsteht' (das Jetzt und die Zukunft). In diesem Sinne hat Urd mit 'Wyrd' zu tun, die ich mit dem östlichen Begriff des Karma verbinde. Urd / Wyrd wäre damit nicht nur das materiell bereits Existierende, sondern auch 'karmische' Bindungen an diese Dinge oder frühere Taten. Beispiel: Wenn in meiner Sippe nur Mörder rumlaufen, habe ich mit einer negativen Wyrd zu kämpfen, das ich aber durch meine Lebensführung verbessern kann. Ich glaube, daß Wyrd / Urd hier mit Skuld verbunden ist. Aus der Wyrd erwächst bei richtiger Betrachtung das Skuld, die 'Schuld'. Schuld hier nicht negativ gemeint, sondern eher im Sinne von 'Das, was werden muß, weil es der jetzigen Situation bereits inhärent ist'. Somit kann ich in einem Runenwurf das Gewordene sehen (die erste Rune, die mir Urd / Wyrd anzeigt), sehe im Idealfall in der zweiten Rune (Verdandi) die ganz konkreten, aktuellen Entwicklungen und kann (muß) die dritte Rune auf die erste beziehen. Leitfrage: Was könnte Skuld anzeigen auf der Basis der vorhandenen materiellen / nicht-materiellen Bindungen (Urd / Wyrd).
Hier noch einmal eine Zusammenfassung, wie ich es sehe:

Die erste Rune gibt Auskunft über vergangene Dinge in dem Sinne, daß es Dinge sind, die entstanden sind. Sie können also auch heute noch existent sein, nur daß sie eben einen Entstehungsprozeß haben, der abgeschlossen ist und in der Vergangenheit liegt. Dies ist die Rune von Urd, der ältesten der Nornen. Sie steht für Vergangenheit und Schicksal.

Die zweite Rune ist die aktuelle Situation, also der Zeit- und Entwicklungspunkt, an dem ich stehe. Sie beschreibt Vorgänge, die gerade in der Entwicklung begriffen sind. Die entsprechende Norne ist Verdandhi. Manchmal kann diese zweite Rune auch Entscheidungen andeuten, die getroffen werden müssen.

Die dritte Rune zeigt auf, was aus dem aktuellen Entstehungsprozeß zu erwarten sein kann. Damit ist klar, daß es meist mehrere verschiedene Möglichkeiten oder Ergebnisse gibt, zu denen die aktuellen Entwicklungstendenzen führen können. Die Rune kann also z.B. ein Ergebnis andeuten. Sie kann weiterhin auf ein Ergebnis verweisen, das eintritt, wenn die in der zweiten Rune angedeuteten Entwicklungen nicht aufgehalten werden. Weiterhin könnte sie auf eine Art Schicksal hindeuten, das eintritt und das nicht oder nur minimal verändert werden kann. Diese dritte Rune ist also diejenige, die am schwierigsten auszulegen ist. Man muß hier sehr intuitiv vorgehen. Die Norne dieser Rune ist Skuld, die auch eine Walküre ist. Skuld, "Schuld" weist auf den Zusammenhang mit dem Schicksal hin.

Wurf mit Ziehen von neun Runen

9er Legemuster © V. Wagner

Lange Zeit habe ich ausschließlich mit dem 3er-Wurf gearbeitet, weil mir alle anderen Legesysteme zu modern ("esoterisch") vorkamen. Das ist auch weiterhin der Fall, jedoch möchte ich für Interessierte einen 9er-Wurf beschreiben. Er ist einem 3er-Wurf nicht unähnlich: Die 3 Spalten werden von links nach rechts - wie bekannt - als "Gewordenes", "Werdendes" und "zukünftige Entwicklungen" gedeutet. Durch die 3 Zeilen, also übereinander liegenden Reihen, wird die Bedeutung folgendermaßen aufgeteilt: unterste Reihe = physische, materielle Aspekte (M); mittlere Reihe = geistige (mentale) Aspekte (G); oberste Reihe = spirituelle Aspekte (S).
Ich will hier mal die Rune Gebo als Beispiel nehmen: auf der untersten Ebene wuerde man sie materiell als Geschenk oder Gabe(-ntausch) deuten. Auf geistiger Ebene stünde sie für den Austausch von Gedanken, Wissen u.ä. unter Menschen. Die oberste = spirituelle Ebene würde dann z.B. ein Geschenk von den Göttern bedeuten.
Die 9 Runen werden nacheinander gezogen und in der Reihenfolge von 1 - 9 (s. Abbildung) gelegt. Inspiriert zu dieser Technik haben mich Steffen (9er-Muster) und J. Smith (Aufschlüsselung der Bedeutungen nach den drei Ebenen).
Die Legefolge ist so gewählt, daß sie eine rechtsläufige Spirale darstellt. Mit den aktuellen, geistigen Bedingungen wird begonnen, da ja auch die Frage im Geiste geformt wurde. Dann folgen die aktuellen materiellen Bedingungen, der Rückgang zu den vergangenen materiellen Grundlagen und deren geistigen sowie spirituellen Gründungen. Dieser Rückgang erfolgt vom Materiellen zum Geistigen, weil das Materielle am ehesten als "geworden" wahrgenommen werden kann. Dann folgt die sechste Rune, eine Schlüsselposition: sie zeigt die aktuellen spirituellen Bedingungen. Zuletzt werden die zukünftigen Möglichkeiten angezeigt, hierbei die materiellen als letzte. Dies soll anzeigen, daß sich Änderungen im Geist entwickeln, bevor sie sich manifestieren.
Die Deutung kann zunächst in Legereihenfolge geschehen. Man kann natürlich dann auch hingehen und z.B. alle drei "materiellen Runen" vergleichen oder jede Spalte für sich analysieren oder ...

Anmerkungen

Ähnlich wie bei den Tarot-Karten wird auch bei der Divination mit Runen immer wieder diskutiert, ob es einen Unterschied in der Interpretation impliziere, wenn eine Rune "verdreht" oder auf dem Kopf stehend fällt. Das halte ich - in Anlehung an E. Thorssons Ausführungen - für unsinnig. Positive oder negative Tendenzen müssen aus dem Wurf "herausgelesen" werden, das heißt, jede Rune verkörpert im Rahmen ihrer Bedeutung sowohl einen sehr positiven wie sehr negativen Pol. Beispiel: Isa kann positiv als Stille oder Einkehr, auch als Abkühlung (von Streit usw.) gedeutet werden, negativ als Erstarrung, Unbeweglichkeit, auch als eisiger Tod.

Manche Menschen wenden sich an die Gottheiten, wenn sie Antworten von den Runen möchten. E. Thorsson hält dies für falsch. Der Fragende müsse die Nachfolge Odins antreten, müsse quasi selbst zum "Gott" werden, um Einsicht in das Wesen der Runen erlangen. Das sehe ich ähnlich.

Unabhängig davon, ob die Runen tatsächlich in der Lage sind, Voraussagungen über Lebensumstände zu treffen, sind sie allemal ein hervorragendes Werkzeug zur Selbsterkenntnis. Je länger man mittels der Runen über die eigene Persönlichkeit nachdenkt, desto besser wird man sich verstehen. Und dann kann es sein, daß man feststellt, wie sehr man doch innerhalb der kosmischen Gesetze lebt, deren Symbole die Runen sind.

Auf der Seite zu den Runen-Ressourcen gibt es eine Einführung zu guten Büchern.

Direkter Sprung zu den Runen:
Fehu * Uruz * Thurisaz * Ansuz * Raidho * Kenaz * Gebo * Wunjo * Hagalaz * Nauthiz * Isa * Jera * Eihwaz * Perthro * Algiz * Sowilo * Tiwaz * Berkana * Ehwaz * Mannaz * Laguz * Ingwaz * Dagaz * Othala

 

Seiteninfo: 1.Autor: Stilkam | 2.Autor: ING | Weitere Autoren: - | Stand: 20.03.2020 | Urheberrecht beachten!