Höhere Mythologie
Die Höhere Mythologie umfaßt die Gottheiten.
Gottheiten im Polytheismus
Polytheistische Mythologien sind meist recht ausdifferenziert. Es gibt viele Gottheiten, wie der Begriff schon sagt, die alle ganz bestimmte Namen, Funktionen und Attribute haben. Darauf gründete z.B. Georges Dumézil seine Einteilung, nach der das Pantheon dreifach entsprechend der indogermanischen sozialen Struktur aufgefächert wird: Herrscherfunktion, Funktion der Stärke und Funktion der Fruchtbarkeit. Aber trotz der Ausdifferenzierung der Mythologie ist es nicht ganz so einfach, die germanischen Gottheiten nach dem Dumézilschen Schema zu sortieren. Die Herrscherfunktion wird durch Odin wahrgenommen, aber hier muß man schon Tyr erwähnen, den vermutlich älteren Himmelsvater. Die Funktion der Stärke geht klar an Thor, aber auch hier mischen sowohl Odin als auch Tyr kräftig mit. Der Fruchtbarkeitsbereich ist von den vanischen Gottheiten (s.u.) wie Freyr und Freya abgedeckt, aber wir wissen z.B., daß die bäuerliche Bevölkerung sich mit der Bitte um Fruchtbarkeit an Thor wandte. Man sieht, daß die Grenzen der Dumézilschen Einteilung verschwimmen. Gundarsson meint, daß man entweder 'Dumezilian' werde oder diese Theorie ganz ablehne.
Gottesbegriff
Der einzelne Gott heißt teiwaz / tyr (Plural: tivar) oder ansuz / áss (Plural: æsir). Göttinnen heißen dis oder idis, Plural disir, bzw. ásynja (Asin). Vom Wortstamm ans- her, der "Pfahl, Stamm" bedeutet, vermutet man, daß hier evtl. ein Verweis auf die in Mooren gefundenen "Pfahlgötter" vorliegen könne. Es gibt andere Interpretationen. (Weiterhin gibt es das altnordische Wort "regin", das mit (Be-)Rater übersetzt werden kann.) Damit ist aber noch nicht alles gesagt, es gibt nämlich noch den ganz interessanten Begriff góð, ein Neutrum Plural und ein Begriff für eine Gesamtheit von männlichen und weiblichen Göttern (mit der Bedeutung "Wesen, denen man Opfer darbringt"). Erst im Christentum wurde der Begriff zu einem rein männlichen Gott. Asfrid OR (Ringhorn 38/39, VfGH) meint, daß tivar der Begriff für die bekannten Gottheiten war, wohingegen góð auch die unbekannten Götter einschließe, die man benenne und denen man "vorsorglich" auch opfere. Zudem sei das aus dem Indogermanischen *ghutom (die Angerufenen) abgeleitete Wort auch eine Bezeichnung für das "göttliche Sein" insgesamt, worauf sich z.B. Tacitus in seiner Germania beziehe, wenn er vom "secretum illud" spricht, der "weltentrückten Macht", die in frommem Erschauern erblickt würde und der die Germanen Lichtungen und Haine weihten. Nach Much bringt Tacitus hier eine Vorstellung der antiken Philosophie ein, die man nicht ohne weiteres auf die Germanen übertragen könne. Wie gesagt, passend wäre diese Vorstellung dennoch in Verbindung mit dem Begriff góð. Zumindest sollte man im Hinterkopf behalten, daß die mit Namen bekannten Gottheiten der Quellen keineswegs alle jemals verehrten germanischen Götter umfassen.
Asen und Vanen
Die nordische Mythologie erzählt uns von zwei Götter-Sippen.
Die Asen sind die Stammesgötter, die Werte wie Ordnung, Hierarchie, Stärke verkörpern. Sie sind das eher dominante und mit maskulineren Werten besetzte Göttergeschlecht, obwohl es natürlich auch unter ihnen Göttinnen gibt. Aber es ist z.B. gerade Frigg, die Göttin des Haushalts, der Mütter usw., die zu den Asen zählt. Asische Götter, wie Odin, Tyr, Thor, sind im allgemeinen recht 'wehrhaft' und vermutlich auch von Menschen verehrt worden, die etwas mit Herrschen und Kriegführen, Erobern und Unterwerfen, zu tun hatten. Man kann auch sagen, daß die Asen himmlische ("uranische") Götter sind, die mit dem geistigen Bereich zusammenhängen, mit Wettererscheinungen usw. Sie sind eher dem Feuer- und Luftelement zugeordnet.
Die Vanen sind die andere Sippe, die von Njörd
(und Nerthus) ausgeht. Hier dominieren
Fruchtbarkeitskult und Eros, Erblühen, Wachstum und Fülle. Für die Ableitung
des Namens hat man vorgeschlagen: altindisch vanas (Lust) oder vanam (Wasser);
auch altnordisch vænn (schön) (altsächsisch wanum).
Man kann nicht sagen, daß die Vanen ausschließlich bäuerliche
Götter sind, denn die schwedischen Könige z.B.
führen ihre Abstammung auf Freyr zurück.
Freyr
und Freya haben mit
Sexualität und Magie zu tun, aber sowohl
Freyr weiß sich gut zu wehren (wie Snorri in der Gylfaginning erwähnt, hätte Freyr den Beli
"mit der Hand töten" können; mehr auf meiner Freyr-Seite),
wie auch Freya, deren Eber "Kampfschwein"
heißt und die sich die Hälfte der Schlachttoten mit Odin teilt.
Aber im allgemeinen sind die Vanen als chtonische Gottheiten zu sehen, die mit dem
Erd- und Wasserelement verbunden sind.
Die Deutung als reine Vegetationsgottheiten, die jahreszeitlich erblühen und untergehen,
ist jedoch falsch, da davon nichts in der Mythologie zu finden ist.
Die mit den Vanen verbundene Geschwisterehe (Freyr / Freya) ist als alte Codierung für eine
ganz enge Wesensverbundenheit anzusehen. Als die Mythen aufgeschrieben wurden, wußte man
das nicht mehr zu deuten und nahm es wörtlich, so z.B. die Schmährede Lokis (Lokasenna).
In diesem Zusammenhang gibt es auch die Theorie, daß die Steinzeitmenschen die - auch in der nordischen Mythologie vertretenen - Riesen verehrten, also Ehrfurcht vor Naturkräften wie Stürmen und Unwettern zeigten. Die Vanen sind dieser Deutung zufolge die Götter des beginnenden Ackerbauzeitalters in der Jungsteinzeit. Hier erhielt die Fruchtbarkeit der Felder höchste Priorität. Die Asen sind dann die "Kriegsgötter" der Eisenzeit und der späteren Wikinger.
"Wenn man diese Götterwelt ... angemessen beschreiben will,
muß man von einem psychologischen oder phänomenologischen Prinzip ausgehen. Alles, was wir
damals wie noch heute über die Mentalität dieser nordischen Götter in Erfahrung bringen
konnten, läßt darauf schließen, daß sie großen Wert auf Ordnung, Organisation und eine
bestimmte Art von Gewalt legten, die nicht roh, aber entschlossen und geeignet war, Ordnung
in das Chaos zu bringen. Man sollte sie besser als Dynamik und Aktionismus bezeichnen;
nichts war starr oder statisch in diesem Universum, die Götter waren ständig unterwegs,
wie etwas Þórr. Es gab keinen verborgenen Gott; alles wurde klar ausgesprochen ...
Ein gewisser Fatalismus beherrschte zwar einige dieser Göttergestalten und Halbgötter
(die Helden insbesondere), aber man muß ihn eher als aktiven Fatalismus bezeichnen;
der Held ging sehr bewußt seinem Schicksal entgegen, das ihm bekannt war, und dies
nicht aus Resignation, sondern weil er wußte, daß die göttlichen Mächte dieses
Schicksal für ihn bestimmt hatten."
Régis Boyer
Der Asen-Vanen-Krieg
Diese beiden Sippen haben einmal Krieg gegeneinander geführt, der von
Odin begonnen wurde.
In Friedensverhandlungen legte man den Streit bei, die Vanen Njörd
und Freyr gingen als
Geiseln zu den Asen, umgekehrt kamen Hönir und Mimir zu den Vanen.
Daß es sich bei der Auseinandersetzung um die eher handfesten, streitbaren Asen und
die fruchtbarkeitspendenden Vanen handelt, hat schon viel Anlaß
zu Spekulationen gegeben. Vor allem wollte man klären, ob die Vanen sozusagen die Götter der
"einheimischen Megalithkultur" waren, während die Asen mit den indogermanischen
Streitaxtvölkern aus dem Osten kamen (s. Indogermanen).
Das wird heute aber in der Regel nicht mehr so gesehen, da man z.B. feststellen konnte, daß der Asengott
Odin eine hohe Kontinuität im Norden hat und wohl nicht eingewandert ist. Ebenso findet
sich dieses Kriegsmotiv in indischen und römischen Quellen, was gegen einen realen, auf
Nordeuropa begrenzten Konflikt spricht.
Dumézil (nach Simek) deutete
diesen mythischen Krieg als Konflikt verschiedener sozialer Gruppen in einer Gesellschaft. Die Asen
stehen dabei für die kriegerischen Gefolgsleute und die Vanen für das Bauerntum. Im Ritus
werde dieser Gegensatz integriert.
Man kann auch etwas mystischer interpretieren, daß die Asen als "himmlische Lichtgottheiten"
gegen das irdische, dunkle Element der Vanen kämpften. Dieser Urgegensatz wurde von einer
monotheistischen Religion wie dem Christentum so gelöst, daß der einzige Gott der Gute ist, wohingegen
alles dunkle auf den Teufel projiziert wird, der das absolut Böse darstellt. Hier wären die
Germanen dann doch sehr vorbildlich in der Integration dieser Aspekte.
Soziale Schicht, Kanonisierung
Mir erscheint dieser Aspekt der sozialen Schicht wichtig. Adlige oder Krieger allgemein hatten eine andere Spiritualität und auch andere Kultformen als der Bauer, der für Fruchtbarkeit und Gedeihen seines Getreides opferte. Das ist ja oben schon beim Asen-Vanen-Krieg angeklungen.
Auch eine andere Sache ist fraglich, nämlich ob es in germanischer Zeit jemals eine solche Kanonisierung der Religion gegeben hat, wie sie Snorri beispielsweise in seiner Edda darlegt. Es ist doch sehr zweifelhaft, ob der typische germanische Bauer aus dem Harz die Unterschiede zwischen Gefjon, Frigg und Gna hätte aufsagen können. Ich verweise hier auf das Zitat von Larrington auf meiner Edda-Seite.
Ebenfalls in diesen Bereich fällt das Thema, wieviel Gottheiten der Einzelne denn verehrt hat. In der Spätzeit des nordischen Heidentums gab es den fulltrui, den persönlichen Hauptgott, sozusagen, dem man "voll vertraut", der auch als kæri vinr, lieber Freund, bezeichnet wurde. Baetke schreibt aber, daß man diesen Fulltrui-Glauben als Produkt der Spätzeit sehen muß und daß man darin keinen "Wesenszug echt nordischen Geisteslebens" sehen darf. So auch Derolez: "Zersetzungsprozeß".
De Vries sieht im späten Heidentum eine Tendenz zum Henotheismus. Das bedeutet, daß gerade die isländischen Siedler einen "Familiengott" hatten, den sie zuallererst verehrten - alle anderen Götter kamen erst danach. Der Henotheismus ist quasi die Vorstufe zum Monotheismus.
Wichtig ist auch der Hinweis, daß wohl nicht jede bekannte Gottheit in einem Kult verehrt wurde. Soweit wir wissen, gab es nie einen speziellen Loki- oder Baldur-Kult. Diese (und andere) Gottheiten scheinen eine rein kosmologische Funktion gehabt zu haben.
"[The Old Norse Religion] was a religion with a polytheistic system
where many gods were worshipped, although the individual preferred to venerate one or
a couple of them. As time went by different gods and goddesses seem to have been
worshipped under different names in different regions."
Näsström
Regionalismus
Belege - vor allem aus der Wikingerzeit - weisen darauf hin, daß verschiedene
Gottheiten in unterschiedlichen Ländern bevorzugt verehrt wurden. Für Dänemark
ist das beispielsweise Odin, für Schweden Freyr,
Freya, Njörd und auch
Ullr, für Norwegen und Island Thor.
Auf der anderen Seite zeigen Karten über theophore Ortsnamen in
Müller-Wille, daß die genannten Götternamen
in ziemlich ausgeglichener Häufigkeit über Dänemark verbreitet sind.
Es ist überhaupt interessant sich anzuschauen, wo welche Götter überliefert sind. Odin beispielsweise gilt als "Hauptgott", doch kannten ihn die Goten offenbar nicht ... Weiterhin scheint die Göttin Freya außerhalb Skandinaviens unbekannt gewesen zu sein. Tyr wiederum ist in den Eddas ein eher untergeordneter Gott, wohingegen die vielfältigen, älteren Namen (Tiu, Ziu, Tiwaz) darauf hindeuten, daß er in früherer Zeit wesentlich angesehener war. (nach Eldaring)
"Nicht in kalten Marmorsteinen,
nicht in Tempeln, dumpf und tot,
in den frischen Eichenhainen
webt und rauscht der deutsche Gott."
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Seiteninfo: 1.Autor: Stilkam | 2.Autor: ING | Weitere Autoren: - | Stand: 20.03.2020 | Urheberrecht beachten!