Gesichter der NerÞus

Wenn wir den ersten Frühlingswind im Gesicht spüren, der kühl durchs blattlose Geäst im Morgentau streicht, läßt sich noch das schneeweiße Antlitz des winterlichen Waldes erahnen. Der Jahreslauf hat viele Gesichter, die stets mit dem Neuen beginnen, sich über das Wachsen und Werden fortsetzen, sich in der Fruchtbarkeit entfalten und in reifender Fülle dem Abschied zuneigen. Am Ende stehen Vergänglichkeit und Auflösung, die wieder den neuen Beginn hervorbringen. Diesen Lauf prägt das uralte Bild der Allmutter Erde, der Nerthus - sie entspricht der Urhandlung des schöpferischen Waltens und Aufgehens. Dieser Grundgeste der Natur einen Ausdruck zu verleihen, reicht bis in die frühesten Phasen in der Geschichte der Völker zurück. Archäologische Funde verweisen in Nordeuropa auf frühe Versuche, die göttlichen Mächte in rohgeschnitzten anthropomorphen Idolen darzustellen. Diesen uralten Vorstellungen liegt ein noch wenig entwickelter Bilderkult zu Grunde.

In Dänemark hat man in dem Rude Eskildstrup Mose bei Sorø ein Idol gefunden, das einen sitzenden bärtigen Mann mit dreifachem Halsring darstellt, der die Hände gefaltet im Schoß hält. Aus der Bronzezeit stammt ein menschengestaltiges Holzidol, das im Broddenbjærg-Moor (Viborg, Jütland) auf einem Steinhaufen (Hörgr) gefunden wurde. Ein weiteres frühes Objekt bildet das sogenannte Götterpaar von Braak, das im Aukamper Moor bei Braak im Kreis Ostholstein in Schleswig-Holstein gefunden wurde. Das Götterpaar steht heute im Archäologischen Landesmuseum im Schloss Gottorf in Schleswig.

Das Idol der NerÞus, deren wechselnde Gesichter ich in den verschiedenen Jahreszeiten fotografiert habe, befindet sich in einer sumpfigen Bruchwaldlandschaft in Norddeutschland. Es handelt sich um ein etwa 2,5 Meter großes Astgabel-Idol, das der Allmutter Erde geweiht ist.